Die TrommelDer Nordwind zerzauste Annas weiße Haare. "Der Duft Sibiriens", dachte sie, als sie über die Berge ihrer Heimat Tuva blickte. Dann ging sie nach Hause, legte sich auf ihr Lager und starb. *
Lydya klammerte sich mit aufgerissenen Augen an den Rock ihrer Mutter. Drei Schamanen standen um das Feuer und schlugen mit ihren Peitschen auf die Flammen. Das Kind wusste, dass dort der Geist ihrer Großmutter Anna war, deren Körper sie gestern bestattet hatten. Mutter hatte erklärt, dass die letzten Wünsche der verstorbenen Seele erfüllt werden mussten. "Sonst kommt sie zurück und nimmt einen von uns mit!" *
"Was sollen wir tun, Nikolai?"
Eine Gänsehaut lief Lydya über den Rücken und ließ sie erzittern. Ihre Brust krampfte sich zusammen, nur mit Mühe konnte sie die Tränen unterdrücken. Besorgt legte die Mutter ein Tuch getränkt mit kühlem Kräuterwasser auf die fiebernde Stirn und streichelte über die schweißfeuchten Haare. * Einige Tage später nahm Nikolai Lydya mit. Auf dem Weg erklärte er: "Deine Großmutter Anna war eine der mächtigsten Schamaninnen unserer Zeit. Was dich in ihrer Hütte erwartet, wird nicht einfach sein." Lydya stieß die niedrige Tür auf. Knarrend gab sie den Blick auf das Innere der Kate frei. Es roch nach kalter Asche und verbrannten Kräutern. Das Kind wagte nicht, den dämmrigen Raum zu betreten. Zitternd und immer noch fiebernd stand sie im Eingang und wartete. Der Gesang der Vögel verstummte. Die plötzliche Stille brachte ihr Herz zum Rasen. Da vernahm sie ein Wispern. Oder war es der Wind? Jetzt hörte sie es deutlicher, ein Raunen. Wie in Zeitlupe setzte Lydya ihren Fuß über die Schwelle. Schwankend stützte sie sich am Türrahmen. Ihr Blick verschwamm. Und da waren sie wieder - die glühenden Augen ihrer Großmutter in den lodernden Flammen. Ein klagender Ton entsprang Lydyas Kehle. Sie wollte fort von hier, fliehen, vergessen. Aber eine fremde Macht zwang ihre Schritte weiter hinein. Lydyas Augen hefteten sich auf eine grobe Decke am Boden. Kam das Geräusch von dort? Langsam streckte sie ihre Hand aus, berührte den rauen Stoff. Sie griff fester zu und zog das Gewebe zu sich. Da lag sie. Annas Trommel. Sie war groß und flach. Das Hirschleder glänzte. Schwarze und rote Linien zeichneten die Umrisse eines Vogels auf das Fell. Die Sehnen im Inneren waren zu einem Kreuz zusammengezogen und mit Leder umwickelt. Lydya erinnerte sich an ihre Großmutter: in der Rechten den Schlegel, der auf der Trommel in ihrer linken Hand zu tanzen schien. Der Blick verschleiert, abwesend, und doch alles durchdringend.
Zögernd griff Lydya nach dem Instrument. Als sie das Leder berührte, war ihr, als spürte sie tausend Stiche in den Fingerspitzen. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Mühsam versuchte sie zu schlucken, ihr Mund war trocken. Als Schritte hinter ihr erklangen, atmete sie erleichtert auf. Nikolai kam. "Du wirst trommeln!", befahl er. "Ich begleite dich, so weit ich kann." Er schichtete Reisig in die Feuerstelle und entzündete sie. Dann warf er Kräuter hinein. Betäubender Rauch stieg auf, umhüllte Kind und Mann. Es kratzte in der Kehle, Lydya fühlte sich schwindelig und benommen. Starr schaute sie auf den Schlegel, der vor ihr lag. "Nimm sie jetzt!", sagte Nikolai bestimmt.
Hastig griff sie zu, erwartete wieder die schmerzenden Stiche. Doch die Trommel fühlte sich glatt und kühl an. Mühsam umklammerte Lydya das Lederkreuz im Innern, konnte sie gerade mit einer Hand halten. Nikolai umfasste ihre Hände und wies sie ein. "Schlage mit dem Schlegel immer drei Schläge im Kreis, so wie die Sonne wandert." *
Vor dem Mädchen riss ein Abgrund auf und sie fiel - tief und tiefer. Sie schrie - laut und lauter. Da war Nikolai neben ihr. Er griff nach ihr. Sanft landeten sie am Ufer eines Flusses. Irritiert schaute sie ihn an. Sie spürte immer noch die Trommel in der Hand und den Boden der Kate unter ihren Füßen. Gleichzeitig war sie hier, an diesem Fluss. Lydya blickte auf das Wasser. Sie war allein. Allein! Die Angst kroch ihren Nacken hoch. Wo war Nikolai? Seine warme Hand? Seine beruhigenden Worte? Grau waberte Nebel über dem Fluss. Lydya beobachtete regungslos, wie sich aus den Schwaden Figuren formten, verzerrte Gesichter, stumme zum Schrei aufgerissene Münder. Wie sollte sie über diesen Strom kommen, vorbei an den Schreckensbildern? Sie kamen näher, deutlich sah das Kind, wie sich Hände nach ihr ausstreckten. Ihre Berührung war klamm und kalt. Lydya sank kraftlos in die Hocke und umklammerte Schutz suchend ihre Beine. "Was soll ich tun?", schrie sie in Gedanken. Tränen rannen ihre Wangen herab. Leise begann sie zu summen, eine Melodie, tröstlich, sie kam aus einer fernen Welt zu ihr. Lydya versuchte sich zu erinnern. Die Töne vibrierten in ihrem Körper. "Mutter!", dachte sie. Und nun wusste sie es wieder. Das Schlaflied ihrer Kindheit schenkte Geborgenheit und Wärme. Die Nebelgestalten wichen zurück, auf der anderen Seite stand ihre Großmutter. Sie hielt ein Kind an der Hand, ein Kind in Lydyas Alter. "Großmutter Anna!", rief Lydya, "was soll ich tun?" Leise vernahm sie die Antwort: "Überwinde deine Ängste! Reite auf den Schwingen des Vogels!" Da wurde der Nebel wieder dichter. Die wallenden Gestalten gewannen an Kraft, zupften an ihrem Gewand. Kalte Klauen zerrten an ihr. Lydyas Füße berührten das Wasser. Sofort spürte sie, wie die Lebenskraft aus ihr heraus rann und weggespült wurde. "Nein!" Erschrocken sprang sie zurück, versuchte die Schemen zu vertreiben, aber ihre Hände durchteilten nur die feuchte Luft. "Überwinde deine Ängste!" hatte Großmutter gesagt. Lydya begann wieder zu summen. Die Kälte wich, sie wurde ruhiger und ihre Stimme kräftiger. Der Nebel lichtete sich, die Gestalten verloren an Form. Lydya breitete ihre Arme aus. Das Tuch auf ihren Schultern rauschte und sie sang in der Melodie ihrer Kindheit: "Ich reite auf den Schwingen des Vogels." Lydyas Arme waren Flügel, sie spürte den Wind in den Federn. Entstand der Wind in ihr? Mit kurzen Schlägen hob sie sich in die Luft, den Fluss unter sich lassend. Die Nebelfetzen versuchten nach ihr zu greifen, konnten sie aber nicht mehr erreichen.
"Großmutter!" Lydya sank in Annas Umarmung. Erleichtert schaute sie auf das Mädchen, das neben ihrer Großmutter stand. "Aber das bin ja ich?" Gedankenverloren strich Lydya über das federnbesetzte Tuch. Dann breitete sie ihre Arme aus und stieg hoch und höher, der Sonne entgegen. Die letzten Reste der Angst fielen von ihr ab. Laut jubilierend erwachte sie in Nikolais Schoß. März 2006
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